Hier finden Sie eine Einführung in das Konzept der Würde in der Patientenversorgung – Dignity in Care – sowie eine Reihe von Anregungen, Werkzeugen und Lösungsansätzen, die Gesundheitsexperten auf allen Ebenen unterstützen sollen.

Würde in der Patientenversorgung richtet sich an alle, die im Gesundheitsbereich tätig sind.

Ob Sie am Skalpell arbeiten, das Bett richten, Termine planen oder besorgte Hilferufe entgegennehmen – im Leben der Menschen, die das Gesundheitssystem nutzen, spielen alle Mitarbeitenden dieses Systems eine Rolle. Mit Ihrer Haltung und Ihrem Verhalten können Sie eine große Wirkung auf die Menschen haben, die medizinische Hilfe brauchen.

Der Wunsch zu helfen und zu heilen war für viele Menschen, die im Gesundheitssystem tätig sind, die Hauptmotivation für ihre Berufswahl. Doch aufgrund des herrschenden Zeitdrucks und der systemimmanenten Schwierigkeiten und Komplexitäten ist es nicht immer einfach, sich den Patienten einfühlsam zuzuwenden.

Das Konzept der Würde in der Patientenversorgung vermittelt einige Ansätze zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten. Durch fundierte wissenschaftliche Untersuchungen weiß man heute sehr viel darüber, welche Ängste und Sorgen die Menschen, die Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen, am meisten umtreiben. Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurden einige praktische Anregungen und Werkzeuge entwickelt, die für alle Gesundheitsberufe und in allen Bereichen des Gesundheitssystems anwendbar sind.

Hierbei muss betont werden, dass die Stärkung der Würde keine Zusatzaufgabe für Gesundheitsversorger ist. Vielmehr liefert das Konzept der Würde in der Patientenversorgung neue Erkenntnisse über die Arbeit, die Gesundheitsversorger bereits heute leisten, und kann so ihre berufliche Zufriedenheit steigern.

Wenn die Interaktion mit dem Umfeld stimmt, können Gesundheitsversorger ihr Würdegefühl auch in Bezug auf das eigene Leben stärken. Sie können konstruktive Gespräche anregen, um mögliche Probleme zu erkennen und die Patientenversorgung zu verbessern.

In dem Bewusstsein, dass Sie vielen Menschen helfen, indem Sie ihnen Trost geben, empfinden Sie mehr Stolz auf ihre Arbeit.

Weshalb ist es so wichtig, Würde in den Mittelpunkt zu rücken?

Zwischen dem Selbstbild eines Menschen und der empfundenen Fremdwahrnehmung durch die Mitarbeitenden des Gesundheitswesens besteht ein enger Zusammenhang. Bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt – Patientinnen und ihre Angehörigen sehen Gesundheitsversorgende als Spiegel, in dem sie ihr positives Spiegelbild erkennen möchten.

Und dieses wichtige Spiegelbild kann durch Haltungen und Verhaltensweisen beeinflusst werden. Dabei ist es wichtig, die ganze Person – nicht nur die Krankheit und die damit verbundenen Beschwerden – zurückzuspiegeln bzw. zu würdigen. Niemand möchte das Gefühl haben, unsichtbar zu sein oder auf einen Tumor bzw. ein beschädigtes Organ reduziert zu werden. Patientinnen und Patienten möchten als Menschen wahrgenommen werden, die Hilfe für ihr medizinisches Problem suchen.

Aus Studien mit unheilbar Kranken ist bekannt, dass das empfundene Würdegefühl den Ausschlag dafür geben kann, ob jemand leben oder sterben möchte. In einer Studie haben zwei Drittel der befragten Sterbenden, die in einem Krankenhaus versorgt wurden, die Würde als etwas beschrieben, das ihnen von anderen genommen werden kann. Nahezu alle außerhalb des Krankenhauses versorgten Sterbenden, die in derselben Studie befragt wurden, vertraten eine entgegengesetzte Ansicht.

Diese Erkenntnisse legen nahe, wie wichtig die Würde ist und weshalb das Gesundheitssystem die Pflicht hat, das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung eines jeden Menschen zu stärken.

Siehe u. a.:

  • Chochinov, H.M. (2002). Dignity-conserving care – a new model for palliative care: helping the patient feel valued. Journal of the American Medical Assosiation, 287, 2253-2260.
  • Chochinov, H.M., Hack, T., McClement, S., Kristjanson, L. und Harlos, M. (2002). Dignity in the terminally ill: a developing empirical model. Social Science & Medicine, 54, 433-443.

Dynamik der Krankheit und der Würde

Genau wie Glück ist auch Würde ein vielschichtiger und facettenreicher Begriff, der nicht leicht zu definieren ist. Doch wie beim Glück ist es auch bei der Würde die Mühe wert, sie ins Leben eines jeden Menschen zu bringen, der das Gesundheitssystem nutzt.

In seiner 15-jährigen Tätigkeit hat das kanadische Forschungsteam um Harvey M. Chochinov eine ganze Reihe von Faktoren ermittelt, die das Würdegefühl eines Menschen mit einem medizinischen Problem entweder stärken oder beeinträchtigen können.

      • Die Erkrankung an sich kann Sorgen um den Verlust der Selbständigkeit, belastende Symptome und überwältigende Angstgefühle auslösen.
      • Durch seine Haltung und seinen Umgang mit der Erkrankung kann der Betroffene selbst etwas dafür tun, um sein Würdegefühl aufrecht zu erhalten.
      • Das Würdegefühl des Betroffenen kann aber auch durch die Art und Weise, wie andere mit ihm umgehen, gestärkt oder verletzt werden.

Das Würdemodell besteht aus der Gesamtheit all dieser Faktoren.

Je schwerwiegender oder belastender die Erkrankung, desto wahrscheinlicher ist es, dass das Würdeempfinden der Person durch fast alle dieser Faktoren beeinflusst wird. Einige Faktoren treffen jedoch generell auf alle Menschen zu, die das Gesundheitssystem nutzen – egal auf welcher Ebene.

So erwartet sicherlich jeder, der mit dem Gesundheitswesen irgendwie in Interaktion tritt, Freundlichkeit und Respekt. Genauso wünscht sich bestimmt jeder ein gewisses Maß an Kontrolle oder Mitsprache an der Behandlung, und mag das medizinische Problem noch so geringfügig sein.

Das Würdemodell

Krankheitsbezogene Aspekte Perspektiven und Praktiken der Person Interaktionen mit Anderen
Symptombelastung
Körperliche Belastung: Schmerzen, Beschwerden
Psychische Belastung: Medizinische Ungewissheit, Angst
Unabhängigkeitsgrad
Funktionelle Kapazität: Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens auszuüben
Kognitive Verfassung: Fähigkeit zum klaren Denken, Argumentieren, Erinnern
Selbstwahrnehmung durch den Betroffenen in der Situation
Autonomie/Kontrolle: Habe ich das Gefühl, dass ich Kontrollmöglichkeiten habe?
Akzeptanz: Bin ich im Frieden mit der Situation?
Bewahrung von Stolz: Bin ich stolz auf mich?
Hoffnung: Gibt es etwas, auf das ich mich freue?
Aufrechterhaltung von Rollen: Welche Rollen kann ich mir noch immer bewahren?
Selbstkontinuität: Bin ich noch immer ich?
Resilienz/Kampfgeist: Was gibt mir den Willen weiterzumachen?
Generativität/Vermächtnis: Was werde ich hinterlassen?
Praktiken zur Erleichterung der eigenen Situation
Leben im Augenblick: Sich nicht ausschließlich auf das medizinische Problem konzentrieren
Erhalt von Normalität: Einhaltung einer Routine
Streben nach spirituellem Einklang: Trost und Halt in spirituellen oder religiösen Praktiken finden
Grundhaltung der Behandelnden: Respektvoll und freundlich behandelt werden
Privatsphäre: Das Gefühl haben, dass die Privatsphäre geachtet wird
Sozialer Rückhalt: Möglichkeit, Unterstützung von Freunden und Angehörigen zu bekommen
Anderen eine Last sein: Sich Sorgen darüber machen, wie andere von der Situation betroffen sind
Sorgen um die Zeit nach dem Tod
Sorgen um die Hinterbliebenen

Würdestärkende Grundsätze in der Patientenversorgung

Gesundheitsversorgende können erheblich dazu beitragen, dass würdeverletzende Einflussfaktoren abgefedert werden.

Unterstreichen Sie den Wert des Menschen.

  • Geben Sie der Patientin/dem Patienten das Gefühl, dass sie/er als der Mensch wahrgenommen wird, der sie/er ist oder war – nicht bloß als medizinischer Fall.

Betrachten Sie die Menschen losgelöst von seiner Erkrankung.

  • Kommunizieren und unterstreichen Sie die Aspekte ihres Menschseins, die nicht von der Krankheit berührt werden.

Schutz der Privatsphäre der Person

  • Denken Sie stets daran, dass bestimmte Vorgänge für Gesundheitsexperteninnen/-experten Routine sind – nicht aber für die meisten Patientinnen und Patienten.

Thematisieren Sie Schmerzen und Beschwerden.

  • Geben Sie der Behandlung körperlicher Schmerzen oberste Priorität.

Setzen Sie sich mit den Ängsten und Befürchtungen der Betroffenen auseinander.

  • Informieren Sie über den zu erwartenden medizinischen Verlauf, Therapieoptionen und Möglichkeiten, wie die Erkrankung behandelt werden kann.
  • Erkennen und behandeln Sie die Symptome einer kognitiven Störung, einschließlich Delirium.

Tragen Sie dazu bei, dass die Patientinnen und Patienten ein Gefühl der Kontrolle und Unabhängigkeit bewahren.

  • Ermöglichen Sie ihnen eine Mitsprache an Entscheidungen über ihre Versorgung oder sonstige persönliche Angelegenheiten.

Bieten Sie soziale Unterstützung an oder stärken Sie diese.

  • Fördern Sie die Einbeziehung von Angehörigen, anderen Gesundheitsdienstleistenden und Seelsorgenden.

Mit dem ABCD der Würde können Sie der Würde einen festen Platz in Ihrer beruflichen Routine geben.

Ein umfassendes Repertoire an würdebewahrenden Ansätzen finden Sie in der Werkzeugkiste.